about (I) - bull-runs und Taxifahrer

  Aktiensafari

about (I)

(aus Gründen der Leserlichkeit wird auf diesem Blog das generische Maskulinum verwendet, wobei selbstverständlich beide Geschlechter gleichermaßen gemeint sind) 

Bull-Runs und Taxifahrer

Als im Februar und März 2020 die Börsen aufgrund der weltweiten Ausbreitung des Coronavirus querbeet einbrachen, konnte man in Echtzeit einem sozialen Phänomen namens "Herdentrieb" beiwohnen. Das Entsetzen, das sich zu Beginn ob der Milliarden an vernichtetem Kapitel in der Finanzbranche ausbreitete, wich mit der Zeit der Neugierde von Außenstehenden, die, je mehr die Kurse nachgaben, mehr und mehr Interesse an ihnen zu entwickeln schienen. Das Interesse schwoll an und ergoss sich schließlich in Euphorie. Infolge dieser Euphorie, die während ihres Höhepunkts Menschen aller Gesellschaftsschichten ansteckte, strömten Tag für Tag mehr Menschen an die Aktienmärkte. 

Die durch den Crash ausgelösten üppigen Rabatte bei Aktien und Kryptowährungen hatten dieselbe Wirkung, die Licht auf Motten oder Lavendel auf Bienen hat: wie ein Supermagnet wurden Neuanleger in Scharen von der Börse angezogen. Viele, die zum ersten Mal in ihrem Leben ein Wertpapierdepot bei einer Bank oder den ebenfalls rasant an Beliebtheit gewinnenden Neo-Brokern eröffneten, mussten aufgrund der Menge an Anfragen mehrwöchige Wartezeiten in Kauf nehmen. Die Depotneueröffnungen waren 2021 auf dem höchsten Stand seit elf Jahren. Es kamen Greenhorns an die Börse, die zwei Jahre zuvor noch nicht einmal wussten, was eine Börse ist.
 
Unter anderem war es diesem enormen Kaufinteresse geschuldet, dass sich die Kurse genauso schnell und rasant wieder erholten, wie sie davor gefallen waren. Das, was sich bis dahin überhaupt nur wenige Ökonomen trauten in Erwägung zu ziehen, trat ein: An den Märkten wurde eine V-Erholung gespielt (steiler Abfall, steiler Anstieg). Nur wenige Monate später, noch im August desselben Jahres, standen die Indizes wieder annähernd auf dem Vor-Corona-Niveau. So, als wäre nie etwas gewesen. Seitdem legten die Aktienkurse einen erstaunlichen Bull-Run hin. 

Kursentwicklung des S&P 500 von Feb. 2020 bis Nov. 2020 (New York Times)

Dadurch, dass insbesondere die europäische und US-amerikanische Notenbank in 2020/21 die Märkte mit Unmengen von Geld fluteten, kannten die Kurse bis zum Januar 2022 in der Regel nur eine Richtung, und das war nach oben. In diesem scheinbar nie enden wollenden (künstlich geschaffenen) Aufwärtstrend zeigten sich die wildesten Auswüchse. Wie etwa Privatanleger, die die Börse zeitweise mit einem Casino verwechselten und sich gegenseitig anstachelten, ihr Geld in immer wahnwitzigere Werte zu stecken - um viel zu gewinnen, aber noch mehr zu verlieren (Stichwort Wallstreetbets).

Egal ob auf der Arbeit, im privaten Freundeskreis oder den sozialen Medien - das Thema Aktien und Kryptos war in aller Munde. Durch die eingeschränkten Möglichkeiten zum Geldausgeben während der Lockdowns und dem damit verbundenen Zwangssparen wartete viel Geld in den Pipelines der Kleinstanleger. Dieses "stupid money" floss nun, getrieben von der Illusion, dass es an den Börsen nie wieder krachen könne, mitunter in sehr spekulative Werte. Anleger entdeckten den Cannabis-Hype für sich, sahen im Wasserstoff die ultimative Alternative zu konventioneller Energie und kauften alles, was die Wörter "Cloud" oder "Tech" enthielt und sich irgendwie nach "disruptive Innovations" anhörte.

Der ungarische Börsenspekulant André Kostolany prägte einst den Spruch, dass, wenn die Börsenstimmung so euphorisch wird, dass sogar Taxifahrer ihren Kunden Aktientipps geben, man als Anleger vorsichtig werden sollte. Die Zeit ab dem März 2020 war so eine Phase: Bewertungen, die ins Unermessliche stiegen. Unzählige IPOs (Börsengänge) und SPACs (Zweckgesellschaften ohne Geschäftstätigkeit), die die Gunst der Stunde nutzten und das Geld, das quasi auf dem Boden herumlag, nur noch einzusammeln brauchten. Das verdeutlicht diese Statistik. Demnach lag die Anzahl der weltweiten Börsengänge 2021 bei 2682, während sie in den letzten zehn Jahren konstant zwischen 728 und 1523 pendelte.
Alles, was bei drei nicht auf den Bäumen war, wurde von den vielen Neuankömmlingen an der Börse freudig empfangen und nicht selten ohne zu zögern und zu durchleuchten gekauft. Das ging lange gut. Jeder kleinste Dip (kurzes Einsacken der Kurse), der gekauft wurde, stand schon kurz danach im grünen Bereich. 
Doch wie alle anderen Börsentrends zuvor musste auch dieser einmal enden.

Unter dem Gewicht von Lieferengpässen, Chipmängeln, Russland-Invasion, Rohstoffknappheit, Preisexplosionen, Inflation und einer in diesem Zuge restriktiver werdenden Notenbankpolitik gaben die Börsen schließlich nach. In der ersten Hälfte dieses Jahres legten sie den Rückwärtsgang ein und einen der schlechtesten Starts seit Jahrzehnten hin. Der US-amerikanische S&P500 hat in diesem Jahr die schlechtesten ersten 100 Handelstage eines Jahres seit 1970Der Fear and Greed-Index, der als Börsenbarometer und Stimmungsmesser dient und die Kauflaune respektive die Verkaufspanik misst, zeigte Ende Mai "Total Fear" und 21 von 100 möglichen Punkten an. Angesichts einer sich abzeichnenden Rezession kehren nun also die roten Vorzeichen zurück und viele Privatanleger der Börse wieder den Rücken zu. 


Fortsetzung folgt hier: about (II)

 


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